Carl Reinecke
(1824 - 1910)
Klaviertrio Nr. 1 D-Dur op. 38
Das Trio entstand 1851 in Reineckes Kölner Zeit, ging 1853 mit einer Widmung an Robert Schumann in Druck, dessen Stil immer wieder durchscheint. Mit der langsamen Einleitung im ersten Satz (Lento – Allegro ma non troppo) aber geht Reinecke zunächst seinen ganz eigenen Weg. Die beiden von den Streichern vorgestellten Themen der Exposition, die motivisch mit der Einleitung verbunden sind, werden durch eine kurze Klavierpassage verbunden, danach scheint es fast, als würde die Durchführung mit der Reprise verschmelzen, denn auch dort erscheinen die Themen in überraschend auffälliger Variation. Das folgende Andante beginnt in h-moll, in entsprechend dunkler, vom Cello bestimmter Stimmung, geht über in eine fliessende, freie Fantasie, die ein skandinavisches Volkslied verarbeitet und endet schliesslich in H-Dur. Das tänzerische Scherzo: Vivace ma non troppo mit zwei Trios eröffnet den Weg zum Finale (Allegro brilliante), in dem Reinecke immer wieder auch Motive aus den vorausgegangenen Sätzen – insbesondere Satz 2 – einfliessen lässt. Ein leider nur allzu selten zu hörendes Stück.
Klaviertrio Nr. 2 c-moll op. 230
42 Jahre ist das zweite Trio älter als das erste, es erschien 1895. Es überrascht nur bedingt, dass Reinecke auch hier exakt den klassischen Vorgaben folgt: Satz 1 (Allegro) in Sonatenform, Satz 2 (Andante sostenuto) dreiteilige Liedform, Satz 3 Scherzo (Vivace ma non troppo), Satz 4 Finale (Lento – Allegro appassionato) wieder Sonatenform. Das kontrapunktische Geschick Reineckes lässt sich auch in diesem Werk sehr gut verfolgen, aber hier wird seine Gabe fast verschwendet an seltsam schwache Motive und Themen. Dabei war Reinecke auch in späteren Jahren zu erstklassigen Leistungen in der Lage (z.B. das Streichtrio op. 249, das Trio für Klavier, Klarinette und Viola op. 264, das Trio für Klavier, Klarinette und Horn op. 274, und das letzte Streichquartett op. 287). In diesem Fall wird die Qualität des zweiten Trios bei weitem überboten vom Schwesterwerk op. 38.
Klavierquartett Nr. 1 Es-Dur op. 34
Obwohl bereits 1844 während Reineckes erstem Leipzig-Aufenthalt komponiert, erschien das Es-Dur-Quartett erst einige Jahre später als op. 34. Satz 1 (Allegro molto e con brio) ist in Sonatenform gesetzt mit zwei Hauptgedanken, deren erster eher rhythmische, deren zweiter eher melodische Akzente setzt. Etwas überraschend, aber durchaus markant meldet sich in der Satzmitte eine neue, volksliedhafte Idee im Klavier zu Wort, bleibt aber Episode. Satz 2 (Andante) wird vom Cello mit dunklen Molltönen eröffnet, die die übrigen Streicher aufgreifen, ehe sich auch das Klavier mit kräftigen Akkorden bemerkbar. Schließlich wendet sich die Stimmung nach Dur, dennoch endet der Satz mit ernstem Unterton. Im folgenden Intermezzo (Allegretto grazioso) allerdings dreht die Stimmung in ein humorvoll-fröhliches Spiel, bei dem das Klavier die Hauptrolle spielt. Auch im Finale (Allegro molto vivace) bleibt diese ausgelassene Stimmung im wesentlichen erhalten, zweimal unterbrochen von einer melodisch fast populär zu nennenden Passage, die vom Klavier hineingetragen wird in die schwungvolle Coda.
Klavierquartett Nr. 2 D-Dur op. 272
Das 1904 gedruckte Klavierquartett D-Dur gehört zu den Spätwerken Reineckes, in denen er versucht, jungen Musikern die klassische Technik der Motivverarbeitung näher zu bringen und das – wie bereits auf dem Titelblatt vermerkt - ´in leichteren Stil`. Ähnlich wie im vierten Klavierkonzert – das ein Gegengewicht zu den gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer ausladender und klobiger werdenden Konzertkompositionen sein sollte - ist das Quartett bei seiner viersätzigen Anlage mit weniger als 20 Minuten Spieldauer sehr konzis gebaut. Schon im ersten Satz (Allegro) fällt zudem der durchsichtige und frische thematische Aufbau auf, der sich ganz bewusst durch die gesamte Komposition zieht. Auf das spielfreudige kurze Scherzo (Moderato) folgt als zentraler lyrischer Satz mit Rückgriff auf die Grundtonart das Adagio, das mit seinem schönen, ohrwurmartigen Thema und seinen winzigen chromatischen Verschiebungen zutiefst beeindruckend klingt. Im Schlußsatz lässt Reinecke bewusst keine fomalen Zweifel aufkommen: Rondo-Finale: Allegretto nennt er das Ende des Werks, das wiederum sehr prägnante Themen besitzt und in eine optimistisch-fröhliche Coda mündet.
Klavierquintett A-Dur op. 83
Entstanden 1866 in Leipzig, gehört das Quintett zu Reineckes herausragenden Werken. Der erste Satz (Lento – Allegro con brio) lässt den Hörer während der langsamen Einleitung tonal völlig im Unklaren, dann aber, sofort mit Beginn des Allegro-Teils erreichen wir die Grundtonart im markanten Hauptthema, dem als Seitenthema ein zurückhaltendes, weiches Seitenthema gegenübergestellt wird. Beide Themen sind auch in Durchführung und Reprise gleichmässig, mit den für Reinecke typischen modularischen Entwicklungen präsent, der Satz endet natürlich mit einer kraftvollen Coda. Den zweiten Satz (Andante con variazioni) beginnt Reinecke mit einer Reminiszenz an die Eröffnung des ersten Satzes, ehe das Klavier, gefolgt vom Cello die thematische Grundlage für vier differenzierte Variationen – darunter eine fast ins Pathetische gesteigerte - legt. Satz 3 (Intermezzo: Allegretto) ist eine spielerisch leicht anmutende Episode, doch auch hier sollte man die modulatorischen Wechsel und Feinheiten beachten. Im Finale (Allegro con spirito) erleben wir einen fast gesellig-kommunikativen Reinecke, der das insgesamt so gelungene Stück zu einem überzeugenden Abschluß bringt.
Cellosonate Nr. 1 a-moll op. 42
Komponiert in den Jahren 1847/8 kann man die Sonate durchaus als Jugendwerk bezeichnen, auch wenn sie erst 1855 veröffentlicht wurde. Das Werk bewegt sich hörbar in der Tradition/Nachfolge von Mendelssohn und Schumann, es besteht aus den folgenden Sätzen: 1. Allegro moderato, 2. Lento ma non troppo mit einem moderato bezeichneten anschliessenden kurzen Intermezzo, das als Scherzo dient, der Schlußsatz ist bezeichnet Allegro molto ed appassionato. Der erste Satz – und letztlich das ganze Werk – wird getragen von einer lyrischen und zugleich frischen Stimmung, das Lento mit seinem vom Cello vorgestellten schönen Thema lässt fast an ein ´Lied ohne Worte` mit dem Streichinstrument als Gesangsstimme denken, pausenlos geht es weiter mit dem scherzoartigen Intermezzo, dessen Trio-Motiv noch einmal im zweiten Teil des Finales auftaucht, das von einem fröhlich-melodischen Thema bestimmt wird. Von dieser Sonate existieren von Reinecke verfasste Versionen für Violine und Viola.
Cellosonate Nr. 2 D-Dur op. 89
Entstanden ist die dreisätzige zweite Cellosonate 1866. Sie beginnt mit einer kurzen langsamen Einleitung, einem Lento Seufzer-Motiv, das in leicht abgewandelter Form wesentliche Teile des ersten Satzes bestimmt. Das folgende Andante wird vom Cello mit einem melancholischen Thema eröffnet, dem das Klavier mit optimistischeren Tönen antwortet, woraus sich ein wirkungsvolles Wechselspiel entwickelt, bei dem die melancholischen Töne die Oberhand behalten. Das moderato überschriebene, in klassischer Sonatenform stehende Finale beginnt nach den eher traurigen Klängen im Andante mit einem optimistisch klingenden Thema im Klavier, dem Reinecke ein kraftvolles zweites Thema gegenüberstellt. Die beiden Themen alternieren auf sehr kunstvolle Weise miteinander, ehe Thema 2 den Satz eindrucksvoll beschließt.
Zitat aus einer Rezension der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung aus dem Jahr 1864: ´Reinecke erschreckte uns nur zuerst ein wenig, indem er so Schumann`sche Miene zeigte, daß er ihm zum Verwechseln ähnlich sah.`
Cellosonate Nr. 3 G-Dur op. 238
Gewidmet ist die 1898 erschienene Sonate dem ein Jahr zuvor verstorbenen Johannes Brahms, eine zeitgenössische Kritik in den ´Signalen für die musikalische Welt` lobt das Werk in höchsten Tönen: ´Feierlich und wehmütig zugleich hebt das einleitende Adagio an, motivisch und rhythmisch das melodisch ausgiebige Hauptthema des Allegro-Satzes vorbereitend. In straffen, energischen Rhythmen vollzieht sich der Übergang zum zweiten Thema, dessen weiche Linien … auf bei Brahms oft vorkommende und für ihn typisch gewordene Stellen hinweisen.` Die Durchführung beschäftigt sich hauptsächlich mit dem ersten Thema, ehe am Ende des Satzes noch einmal die Stimmung des Andante-Beginns zitiert wird. Das folgende Andante mesto besteht aus einem trauermarschähnlichen, elegischen Gesang, der fast ausschließlich dem Cello vorbehalten ist. Das Finale: Allegro beginnt mit einem kraftvollen Thema kontrastiert von einem innigen Thema 2, deren Wechselspiel nach einigen harmonischen und modulatorischen Wendungen in einen hymnenartigen Gesang mündet, der den Abschluss dieses eindrucksvollen Werks bildet. Es ist schade, dass sich bisher nur wenige Cellisten dieser Komposition und auch den beiden ersten Cellosonaten Reineckes angenommen haben.
Drei Stücke für Cello und Klavier op. 146
Veröffentlicht 1893 sind diese Stücke typisch romantische Häppchen mit unverkennbaren Schumann-Anklängen: Nummer 1 Arioso hat – wie der Name andeutet - Opern-Ariencharakter, aber auch der Gedanke an ein abgewandeltes ´Lied ohne Worte` liegt nahe. Im Mittelstück – einer Gavotte – blickt Reinecke kompositorisch einige Jahre zurück, versieht diesen Rückblick aber mit reizvollen romantischen Anklängen. Im letzten Teil, einem Scherzo mit der Bezeichnung ´federleicht`, wechselt beeindruckende lyrische Bogenarbeit mit virtuosen, spieltechnisch anspruchsvollen Passagen.
Drei Fantasiestücke für Viola (oder Violine) und Klavier op. 43
Das erste Stück (Andante) entstand 1845, die beiden folgenden (Allegro molto agitato und das Finale, bezeichnet als Jahrmarkt-Szene - Molto vivace) schrieb Reinecke 1852. Ähnlich wie im op. 22 verarbeitet der Komponist einfache, populäre Themen, im Andante verschmelzen die dunklen Klänge der Viola eindrucksvoll mit den perlenden Läufen des Klaviers, das folgende titellose Allegro gibt sich fröhlich, entspannt, dabei formal überraschend frei, während der Schlußteil, eine Humoreske in G-Dur – bezeichnet Molto vivace: Ausgelassen und mit ungebundener Laune - ein ´altes Volkslied im Bänkelsängertone` verarbeitet.
Zehn Fantasiestücke für Viola (oder Violine) und Klavier op. 213
1891 geschrieben, haben alle Stücke Namen, teilweise Blumen (Primel, Butte), manchmal auch nur Air, Serenate, Farandole oder – das längste Stück ´Variationen über ´God Save the Queen.
Sonate für Flöte und Klavier c-moll op. 167 ´Undine`
Der Beiname ´Undine` bezieht sich auf die tragische Geschichte der gleichnamigen Wassernixe, wobei Reinecke als Grundlage insbesondere die Märchendichtung von Friedrich de la Motte-Fouqué aus dem Jahr 1811 diente. Auch wenn die Versuchung groß ist, bei den einzelnen Sätzen inhaltliche Parallelen zur Undine-Geschichte zu ziehen, so bleibt das Stück in seiner Werkarchitektur doch auch deutlich hörbar ´absolute Musik`, zumal die Märchen-Erzählung von Motte-Fouqué eine sehr verschachtelte Version der Geschichte bietet, die musikalisch in einer Kammersonate nachzubilden ohnehin fast unmöglich ist und sich letztlich auf einige Schlüsselmomente und -figuren beschränken muss, zumeist naturgemäss auf die Titelfigur. Die 1882 in Paris uraufgeführte Sonate (die deutsche Erstaufführung fand zwei Jahre später in Leipzig statt) besteht aus vier Sätzen, von denen die Sätze 1 und 4 (Allegro bzw. Allegro molto agitato ed appassionato, quasi presto) in Sonatenhauptsatz-Form komponiert sind, Satz 2 (Intermezzo: Allegro vivace) als Scherzo mit zwei Trioteilen und der dritte Satz (Andante tranquillo) in dreiteiliger Liedform. Zumeist übernimmt die Flöte die Führungsrolle, im ersten Satz fällt dem Klavier neben bestätigender Themenwiederholung lediglich die Aufgabe zu in einer stetigen Sechzehntel-Wellenbewegung Undines Element zu verdeutlichen. Das folgende Intermezzo beginnt mit einem ausgelassenen Tanz von Flöte und Klavier in flirrenden Staccato-Akkorden, der abgelöst wird von einem ruhigeren, rhythmisch punktierten Thema im Klavier, das das Erscheinen des Ritters andeutet, der Tanz setzt sich fort, noch ist Undine für ihn unsichtbar, dann aber im Trio 2 folgt eine misterioso überschriebene Melodie, die Undines Erscheinung und den tiefen Eindruck beschreiben könnte, den sie auf den Ritter macht. Das Andante klingt wie ein Liebesduett für Flöte und Klavier, kurz unterbrochen von einer schnellen Passage, die das gefährdete Glück mehr als nur andeutet. Der Schlußsatz (wieder e-moll) ist durchzogen von dramatischer Trauer, erzählt vom tragischen Ende der Beziehung und schließlich zieht sich die Nixe zu den misterioso-Klängen aus Satz 2 wieder in ihr Element zurück. Neben der Version für Flöte und Klavier hat Reinecke auch eine für Klarinette erarbeitet, die insbesondere in den Mittelsätzen einen ganz eigenen Reiz besitzt.
Vier Fantasiestücke für Klarinette und Klavier op. 22
Ein 1845 entstandenes Werk, das erstaunliche Qualitäten besitzt: die einzelnen Stücke sind überschrieben 1. Allegretto (D-Dur), eine sanft fliessende Melodie im Rhythmus der Siciliana, 2. Presto (cis-moll), in dem sich der erste Teil noch einmal kurz in Erinnerung bringt, 3. Deutscher Walzer (A-Dur), dessen tänzerische Ruhe von einem glitzernden Intermezzo ergänzt wird und 4. ein als Canon (B-Dur) bezeichneter melodiöser, kontrapunktischer Dialog zwischen den beiden Instrumenten.
Introduktion und Allegro appassionato für Klarinette und Klavier c-moll op. 256
Komponiert um die Jahrhundertwende folgt in diesem Originalstück für Klarinette und Klavier auf eine dunkel getönte in der Grundtonart stehende Einleitung ein Sonaten-Allegro, das nach einer kurzen Rückkehr zur elegischen Eröffnung in eine temporeiche, stürmische Coda mündet.
Trio für Klarinette, Viola und Klavier A-Dur op. 264
Ein Spätwerk Reineckes aus dem Jahr 1903, das er selbst am Klavier gemeinsam mit zwei Gewandhaus-Solisten in Leipzig aus der Taufe hob und das zu seinen herausragenden Werken zählt. Es ist viersätzig, formal an die bekannten klassischen Vorbilder angelehnt. Eröffnet wird es von einem Moderato bezeichneten Satz in Sonatenform, in der das erste Thema in der Durchführung um Ende hin auf zwei Töne reduziert wird. Der zweite Satz (Intermezzo Moderato) ist fraglos an Schumann orientiert, eine leichte Analogie zu dessen zweitem Klavierkonzert ist kaum zu überhören. Dem lyrischen Tonfall des zweiten folgt auch der dritte Satz (Legende: Andante), in dem besonders die Klarinette mit klagenden Tönen hervorsticht. Im Finale (Allegro moderato) in Rondoform lässt Reinecke das Thema in sich stets wandelnden Wendungen erscheinen, bevor er – vor dem letzten Erscheinen des Themas – eine ungewohnte Spannung erzeugt, indem er, bei reduzierter Dynamik, die Klarinette kontrapunktiert von Viola-Pizzicati über einem leisen Klavier-Ostinato das Thema vorsichtig andeutet, ehe es dann in voller Blüte erscheint.
Violinsonate e-moll op. 116
Komponiert im Jahr 1872 (uraufgeführt am 20. Dezember 1873 im Gewandhaus mit dem Komponisten am Klavier) gehört die Sonate zu den wenigen Werken Reineckes mit einer solistisch eingesetzten Violine. Die Sonate besteht aus 3 Sätzen, in denen Violine und Klavier gleichberechtigt agieren. Satz 1 (Allegro con fuoco) steht in der üblichen Sonatenform mit Expositionswiederholung, weist zwei ansprechenden Themen auf, von denen das zweite, eher sangliche, sich angenehm im Ohr festsetzt. Beide Themen sind in der Durchführung zu gleichen Teilen variantenreich vertreten, während die Reprise mit einer exakten Wiederholung der Exposition beginnt, ehe nach einem kurzen Übergang der Satz mit dem herberen ersten Thema in die Coda mündet. Satz 2 (Andante ma non troppo lento) wird vom Klavier eingeleitet, ehe die Violine eine leicht elegische Melodie anstimmt, die die Stimmung des Satzes bis zum Ende bestimmt, unterlegt von vielfach variierten Klavierklängen. Im Finale: Allegro con brio, einem Rondo, zieht Reinecke das Tempo an, ohne aber den generell leicht schmerzlichen Unterton des Werks hinter sich zu lassen.
Serenade Nr. 1 für Klaviertrio C-Dur op. 126 Nr. 1
Serenade Nr. 2 für Klaviertrio a-moll op. 126 Nr. 2
Beide Werke stammen aus dem Jahr 1873 und bestehen aus jeweils vier Sätzen. Dem Serenaden-Charakter entsprechend sind beide Stücke von eher leichtem Wesen (abgesehen von der düsteren Einleitung der ersten Serenade) und durchsichtig verarbeitet. Die vier Teile der ersten Serenade sind überschrieben: (1) Adagio, (2) Intermezzo, (3) Fandango und (4) Rondo. Die Serenade Nr. 2 wird von einem deutlich spanisch angehauchten Marsch eröffnet, gefolgt von einem Adagio, das als Canon bezeichnet ist und der Viola eine wesentliche Rolle zuweist. Der dritte Teil übernimmt mit dem Titel Humoreske die Scherzostelle ein und den Schluß bildet ein Andante mit sechs Variationen, die am Ende noch einmal in den ´spanischen` Marsch des Beginns münden.
Streichtrio c-moll op. 249
Geschrieben 1901 hat das Stück vier Sätze: das erste Allegro moderato beginnt leise und fast geheimnisvoll, eine Stimmung, die den kompletten Satz durchzieht. Im folgenden elegischen Variations-Andante erscheint unvermittelt ein neues springlebendiges Thema, der Satz verklingt aber genauso wie er begonnen hat. Das Intermezzo: Vivace ma non troppo ist dreiteilig angelegt, während dem Finale eine ausgedehnte langsame Einleitung (Adagio ma non troppo lento) vorangestellt ist, bevor ein eher zahmes Allegro un poco maestoso erklingt. Insgesamt bereichert das Stück die knappe Literatur für Streichtrio nicht wesentlich, dazu sind die Themen – von Ausnahmen abgesehen – zu wenig prägnant und einprägsam.
Bläseroktett B-Dur op. 216
1892 wählte Reinecke für seinen Beitrag zum romantischen Revival der klassischen Bläserwerke die ungewöhnliche Besetzung mit Oboe und Flöte als Oberstimmen. Dazu kommen jeweils zwei Klarinetten, Hörner und Fagotte. Das Werk hat vier Sätze, Satz 1 (Allegro moderato) steht in Sonatenform mit zwei sanglichen Themen, von denen in der Durchführung besonders das Seitenthema in vielfacher Modulation verarbeitet wird. Mit dem rhythmisch geprägten Scherzo (Vivace) ergänzt von einem sanglich-verträumt fliessenden Trio als zweiten Satz weicht Reinecke vom üblichen Aufbau ab. Der zentrale Satz, ein Adagio ma non troppo, folgt an dritter Stelle, eröffnet von einer sehnsüchtigen Kantilene der Klarinette. Leider verliert der Satz im Mittelteil ein wenig an Spannung. Das Finale (Allegro molto e grazioso) ist das erwartbare flotte Rondo, in dem alle Beteiligten zu ihrem virtuosen Recht kommen, wobei sich Reineckes geliebte Flöte als minimaler Favorit erweist.
Bläsersextett B-Dur op. 271
War das Oktett op. 216 noch stark an den klassischen Vorbildern orientiert, spiegelt sich im 1904 komponierten Sextett immer wieder der spätromantische Zeitgeist. Das klassische Quintett erweitert Reinecke um ein zweites Horn zur Gewinnung eines kräftigeren Klangvolumens. Das Stück hat drei Sätze: Allegro molto in Sonatenform mit einem schon zu Beginn des Satzes eingeführten Motiv, das nicht nur immer wieder in seiner Originalform, sondern gespiegelt und moduliert den kompletten Satz beherrscht. Zum Ende – wie als Bestätigung – erklingt es dreimal in seiner Originalform im Horn. Doch auch im zweiten Satz (Adagio molto) verwendet Reinecke dieses Motiv in den Rahmenteilen des Satzes zumeist vorgetragen von Horn, Fagott und Klarinette, während das als Mittelteil dieses Satzes überraschend auftauchende Scherzo – mit einem kurzen, an einen Volkstanz erinnerndes Trio – stark auf die Flöte zugeschnitten ist. Das lebendige, humorvolle Rondo-Finale (Allegro moderato ma con spirito) klingt in seinen Hauptteilen wie gemacht für eine Reihe von spielfreudigen Dorfmusikanten, die vor der effektvollen Coda noch einen populären Walzer zum Besten geben.
Trio für Oboe Horn und Klavier a-moll op. 188
Das Trio stammt aus dem Jahr 1887, es ist trotz seiner teilweise überraschend kurzen vier Sätze total an klassischen Vorbildern orientiert. Satz 1 (Allegro moderato in Sonatenform) wird von der Oboe eröffnet mit einem Synkopen-Thema, das eher pastose Thema 2 erklingt nach einer Klavier-Überleitung im Horn, in einem ständigen Wechselspiel zwischen Horn und Oboe erreicht der Satz seinen Höhepunkt mit einer kurzen Oboenkadenz, dann setzt sich der Tanz zwischen beiden Bläsern fort. Es folgt ein Scherzo (Molto vivace) von lediglich gut zwei Minuten Länge, in dem sich Horn und Oboe in angeregter Unterhaltung befinden, nur kurz unterbrochen vom obligaten Trio. Es folgt ein wiederum eher konzises Adagio mit einem lyrischen Thema im Horn, dem es ein wenig an Kraft mangelt. Im Finale (Allegro ma non troppo) nimmt Reinecke zunächst die Stimmung des Scherzos wieder auf, wobei das Horn zweimal den Versuch unternimmt, die Adagio-Melodie ins Spiel zu bringen, aber beide Male von der Oboe ´überstimmt` wird und schließlich endgültig die fröhlichen Klänge übernimmt.
Trio für Klavier, Klarinette und Horn B-Dur op. 274
Reinecke war 81 Jahre alt, als er dieses viersätzige Trio verfasste. Satz 1 (Allegro) lässt die beiden Bläser die zwei Sonatensatz-Themen miteinander ausfechten, untermalt von begleitenden Klavier-Arabesken, die zu einem zwischenzeitlichen, klanglich stark verdichteten Höhepunkt führen, ehe der Satz zart und leise verklingt. Das Klavier eröffnet Satz 2, betitelt: Ein Märchen: Andante und es scheint, als habe Reinecke hier ganz zu sich selbst gefunden, weiche Melodik, zarte Klänge bestimmen durchweg das Bild. Von besonderem Reiz: das Hornsolo in der Mitte des Satzes. Erst zum Ende erklingen leichte Störgeräusche, dann aber: Ende gut, alles gut! Es folgt ein lebendiges Scherzo (Allegro) mit zwei Trioteilen: das erste gehört in seinem Ländler-Charakter fast allein dem Horn, das zweite ist eine abgewandelte Verkürzung des Hauptthemas. Das Finale (Allegro) steht wieder in Sonatenform, in der Reinecke noch einmal alle kompositorischen Register zieht: von dolce bis con fuoco reicht die Ausdrucksskala, dann wieder von lyrischem espressivo bis zu einem rätselhaften misterioso. Am Ende fliessen alle diese Stimmungen in eine triumphierende, majestätische Coda.
3 Sonatinen für Violine und Klavier op. 108
Diese drei relativ kurzen Stücke stammen aus dem 1871 und sollten Übungszwecken für Reineckes Schüler am Konservatorium dienen, um die Sinne für kammermusikalisches Miteinander, modulatorische Prozesse und – last not least – klassische Formen zu schärfen. Von der F-Dur Sonatine (Nr. 1) existiert eine Bearbeitung für Flöte und Klavier.
Notturno für Horn und Klavier Es-Dur op. 112
Lediglich die ungewöhnliche Zusammenstellung mit Horn und Klavier hebt dieses kurze Stück aus dem Jahr 1871 heraus aus den gleichnamigen Werken eines Field oder Chopin. Das Horn stimmt eine schöne, lyrische Melodie an, kurz unterbrochen wird die verträumte Mondnacht von einer unruhigeren Episode, so dass der klassischen dreiteiligen Anlage des Nocturne gerade noch Genüge getan wird. Der Rest des Stücks gehört der ´bel canto` Kantilene des Horns.
VOKAL
Neben den musikalischen Märchen hat Reinecke eine sehr große Zahl an Liedern geschrieben (davon sind wiederum ein beträchtlicher Teil ´Kinderlieder`), die zu seiner Zeit einen großen Anteil an der bürgerlichen ´Hausmusik` ausmachten, heute aber vergessen sind und von denen keine Einspielungen existieren (Ausnahme: eine Auswahl von sieben Kinderliedern als Anhang zur Dornröschen-Aufnahme von Peter Kreutz – cpo 999870-2). Auch Reineckes Chorlieder und die größeren Vokalwerke wie das Oratorium Belsazar op. 70, die Kantate Hakon Jarl op. 142 für Orchester und Männerchor (zur gleichnamigen Sinfonie Nr. 2 sh. dort), die Sommertagsbilder op. 161 werden heute nicht mehr aufgeführt. Beim chorlastigen Belsazar ist zweifellos Händel vorzuziehen, ´Hakon Jarl` scheint zu Unrecht das Schicksal mit den diversen Kantaten und weltlichen Oratorien von Max Bruch zu teilen trotz eines ehemals grossen internationalen Erfolgs. Bei op. 161 mit seiner lyrischen Grundstimmung und den wirkungsvollen Chören bietet sich eine erneute Annäherung durchaus an. Die kirchlichen Werke Reineckes – darunter zwei Messen op. 95 und 114 (letztere als Missa brevis bezeichnet) sind ebenfalls aus dem Repertoire gefallen.
OPER
Carl Reineckes Bühnenwerke sind komplett aus dem Blickfeld verschwunden! Noch nicht einmal der vortreffliche Opernführer von Ulrich Schreiber verliert ein einziges Wort über die sechs! Kompositionen, die im Jahre 1855 mit der Vertonung von Theodor Körners Singspiel
Der vierjährige Posten op. 45
beginnen, das u.a. schon Franz Schubert vertont hatte. Reineckes im wesentlichen liedhafte Version wurde vielfach von Amateurensembles aufgeführt, aber auch von grösseren Häusern in Städten wie Bremen, Graz und Kopenhagen (in dänischer Übersetzung).
König Manfred op. 93
Die fünfaktige Oper über den Sturz und den Tod des unehelichen Sohns Friedrichs des Zweiten, Manfred, König von Sizilien (1232-1266), schrieb Reinecke inmitten der Kriegswirren der preussisch-östereichischen Auseinandersetzung zwischen April und Dezember 1866 auf ein Libretto seines Freundes Friedrich Röber; die Erstfassung wurde am 26. Juli 1867 mit großem Erfolg am Königlichen Hoftheater Wiesbaden uraufgeführt. Auch die Leipziger Erstaufführung am 24. Mai 1868 unter Leitung des Komponisten brachte Reinecke grosses Lob. Aber trotz einiger Umarbeiten, die im Wesentlichen die Charakterzeichnung des Titelhelden betrafen und 1884 zu einer neuen Fassung des Werks führten, blieb König Manfred der langfristige Erfolg versagt, verdrängt – so Reineckes eigene Vermutung – von den Werken Richard Wagners, aber auch durch die nicht unerheblichen Schwächen des Textbuchs sowie der nicht unerheblichen Schwierigkeit der Solopartien. Trotzdem ist es schade, dass bisher keine einzige Arie, kein Ensemble der Oper aufgenommen wurde, ganz zu schweigen von einer Gesamtaufnahme. In der in freier Sonatenform angelegten Ouvertüre begegnen uns bereits einige Themen und Motive der Oper. So zitiert die langsame Einleitung den Beginn der vierten Szene im zweiten Akt, die sich daraus entwickelnde Kantilene mit obligater Harfenbegleitung spiegelt das Duett Manfreds und seiner Frau Helene aus dem fünften Akt wieder. Daraus schält sich allmählich das Allegro heraus, dessen zweites Thema wiederum motivisch mit Manfred verbunden ist, dieses Mal stammt es aus einem Terzett des dritten Akts. In der Coda taucht noch einmal die Duett-Kantilene ins Fortissimo gesteigert auf. Weitere Orchesterstücke aus König Manfred sind die Vorspiele zum vierten und fünften Akt sowie eine Ballettmusik, die ebenso wie die Gesamtanlage in fünf Akten Reineckes Ambition in Richtung ´Grand Opera` a la Meyerbeer und Halevy erahnen lässt. Insbesondere das Vorspiel zum letzten Akt mit seinem eindrucksvollen Melodiebogen dürfte auch heutigen Hörer gefallen, die Zeitgenossen zumindest waren begeistert und haben des Öfteren auf einer Wiederholung bestanden. Schade, dass ein Karajan dieses Stück nicht in seine Opern Vor- und Zwischenspiel-Aufnahmen eingebaut hat. Die Ballettmusik – langsame Introduktion gefolgt von einem schnellen, im Tempo gesteigerten zweiten Teil – ist thematisch eigenständig, während das auch als Violinromanze bekannte Vorspiel zum vierten Akt direkten thematischen Bezug zum folgenden Chor aufweist.
Ein Abenteuer Händels oder die Macht des Liedes op. 104
Dieses Singspiel aus dem Jahr 1873 fusst auf einer Anekdote, nach der Händel auf einem Spaziergang in London durch ein Unwetter überrascht wurde, bei einem Schmied kurzfristig Unterschlupf fand und dabei den Schmied ein Lied singen hörte, dass er später kompositorisch verarbeitete. In Reineckes Stück kommt Händel allerdings nicht vor, die Geschichte wird komplett aus der Sicht des Schmieds erzählt und mit einer Liebesgeschichte verwoben, deren gutes Ende durch Händels Musik befeuert wird. Das Werk ist nach seinem Erscheinen auf diversen Bühnen in Deutschland aufgeführt worden, aber inzwischen völlig vergessen.
Auf hohen Befehl op. 184
Eine komische Oper aus den 1884/5, deren Text Reinecke selbst verfasste. Trotz einiger Inszenierungen und durchaus positiver zeitgenössischer Resonanz konnte sich auch diese Oper nicht im Repertoire halten.
Der Gouverneur von Tours
Reineckes letzte Oper, geschrieben zwischen 1889 und 1891, in Schwerin uraufgeführt, danach auch in Lübeck und Leipzig gespielt.
Bühnenmusik zu Schillers ´Wilhelm Tell` op. 102
Vollkommen vergessen ist die 1870 verfasste 13teilige Bühnenmusik zu Schillers Drama. Reinecke, der auch eine komplette Bearbeitung für Klavier zu vier Händen herausgab, begleitete das Drama musikalisch fast ausschließlich mit Orchesterstücken; Ausnahmen sind lediglich die Nr. 5 (ein Lied für Tells Sohn Walther) und die Nr. 10 (eine von sechs Mönchen angestimmte Totenklage nach Geßlers Fall).
Literatur
J. W. von Wasielewski: C. Reinecke. Sein Leben, Wirken und Schaffen. Ein Künstlerbild, Leipzig 1892
Katrin Seidel: Carl Reinecke und das Leipziger Gewandhaus, Hbg. 1998 (= Musikstadt Leipzig Bd. 2)
Katrin Seidel/Ludwig Finscher, Art. Reinecke, Carl Heinrich Carsten, WÜRDIGUNG, KAPITEL in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, New York, Kassel, Stuttgart 2016ff., veröffentlicht November 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/509064
Matthias Wiegandt: Vergessene Symphonik? Studien zu Joachim Raff, Carl Reinecke und zum Problem der Epigonalität in der Musik, Berliner Musik Studien Bd. 13, Diss. 1995
Friedhelm Krummacher: Das Streichquartett – Teilband 2: Von Mendelssohn bis zur Gegenwart, Laaber 2003
Gerhard Puchelt; Verlorene Klänge – Studien zur Deutschen Klaviermusik 1830-80, Berlin-Lichterfelde 1969
Johannes Bittner: Die Klaviersonaten Eduard Francks (1817-1893) und anderer Kleinmeister seiner Zeit, Diss. Hamburg 1968
In seiner Autobiografie ´Erlebnisse und Bekenntnisse` spricht Carl Reinecke an einer Stelle über seinen Mentor Ferdinand Hiller und dessen Werke, die inzwischen ´ .. ad acta gelegt (sind), ein Schicksal, das Viele trifft, die einst gefeiert wurden und dem auch ich mit Resignation entgegensehe ..` Fast genauso ist es gekommen, zumindest im Konzertsaal. Der Komponist Carl Reinecke taucht vielleicht hier und da mit seiner Flötensonate ´Undine` oder seinem Flötenkonzert auf, der Rest seiner 288 Opus-Zahlen ist so gut wie vergessen. Reinecke war vielseitig tätig: als Komponist, Klaviervirtuose (sein Mozartspiel wurde von den Zeitgenossen besonders gerühmt), Dirigent, Musikpädagoge und Musikschriftsteller. Besonders ins Gewicht fallen dabei die 35 Jahre zwischen 1860 und 1895 als Leiter des Gewandhauses in Leipzig. Trotz der Bedeutung seines dirigentischen Wirkens und seines vielfach anerkannten Virtuosentums, wollen wir uns auf diesen Seiten lediglich mit dem Komponisten Carl Reinecke beschäftigen, über den Schumann geäußert hat, dass Reinecke, um in der Kunst (des Komponierens) Fortschritte erzielen zu können, mehr Selbstvertrauen gewinnen, er sich höchsten Aufgaben stellen müsse, um die nächste hohe Stufe zu erreichen.
Reinecke aber war als ´Opfer` seiner ungemein strengen Erziehung gerade nicht mit der dazu notwendigen Portion Selbstbewusstsein ausgestattet, im Gegenteil: er galt als stets ´weich, nachgiebig und bescheiden` (Seidel). Das hatte bei aller Anerkennung Auswirkungen insbesondere auf seine berufliche Stellung und Position, aber auch auf seine kompositorische Tätigkeit. Er blieb – zumal als Freund der traditionellen Fraktion (absolute Musik) im Gegensatz zum Neudeutschen (Programmmusik, Wagner) – stets – ähnlich wie Max Bruch – im Bereich der ´klassischen` Formen und enthielt sich jeglicher ´Experimente`. Möglicherweise hat diese Haltung auch damit zu tun, dass er sein Talent – wie er sehr oft betonte - für so begrenzt hielt, dass er den formalen klassischen Konventionen schlicht treu bleiben musste. Dass Reinecke sich darüber hinaus gern in eine Kinder- und Märchenwelt flüchtete, hing vermutlich auch mit der ungemein strengen Erziehung des Vaters zusammen.
Carl Heinrich Carsten Reinecke wurde am 23. Juni 1824 in Altona geboren, das zu der Zeit zum Königreich Dänemark gehörte, ehe es nach dem deutsch-dänischen Krieg 1864 preussische Provinzstadt wurde. Die Mutter starb 1828 an Schwindsucht mit der Folge, dass Carl und seine ein Jahr ältere Schwester Anna Johanna Elisabeth, genannt Betty, allein vom Vater Johann Reinecke, einem Musikpädagogen, aufgezogen wurden, den beide Kinder später übereinstimmend als durch den frühen Tod seiner Frau verdüstert und sehr streng schilderten, der sich andererseits aber sehr intensiv und hingebungsvoll um die Ausbildung und Erziehung seiner beiden Kinder kümmerte. Carl besuchte wegen seiner schwachen Konstitution, die er von der Mutter geerbt hatte, keine Schule, die ausgedehnte Lehrtätigkeit übernahm einzig und allein Vater Johann, der ihm etwa ab dem sechsten Lebensjahr auch Klavier- und Violinunterricht erteilte. Etwas später versuchte sich der Knabe an ersten einfachen Kompositionen, die den Vater veranlassten, ihm zusätzlich eine umfängliche theoretische Ausbildung angedeihen zu lassen. Im Alter von 11 Jahren hatte Carl Reinecke seinen ersten öffentlichen Auftritt in Altona, dem in den nächsten Jahren zahlreiche weitere auch im benachbarten Hamburg folgten.
Allmählich wurde es dem jungen Mann zu eng in der häuslichen Umgebung, es zog ihn zur Vertiefung seiner Ausbildung in die damalige musikalische Metropole Norddeutschlands, nach Leipzig. Nach einer Konzertreise, die ihn nach Dänemark und Schweden geführt hatte und von der er ausgestattet mit einem Stipendium seines Landesvaters König Christian VIII. zurückkehrte, übersiedelte Reinecke 1843 nach Leipzig. Dort blieb er drei Jahre, die er intensiv zur Vertiefung seiner pianistischen und kompositorischen Fähigkeiten nutzte, u.a. im engen Austausch mit Felix Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann.
1846 unternahm er als Teil eines Streichquartetts, zu dem auch sein Biograph und Freund Wilhelm Joseph von Wasielewski als Violinist gehörte (Reinecke spielte Bratsche oder Klavier) eine Tournee durch den Norden Deutschlands. Nach einem Abstecher nach Danzig und Riga kehrte Reinecke im Oktober 1846 kurz nach Altona zurück, reiste schliesslich aber über Kiel nach Kopenhagen, wo er bis Anfang 1848 als Hofpianist wirkte. Aufgrund der politischen Lage, die im März 1848 zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Dänemark und Schleswig-Holstein führten, ging Reinecke wiederum nach Leipzig, wo nach Mendelssohns frühem Tod Julius Rietz die Leitung des Gewandhaus-Orchesters übernommen hatte. Dort absolvierte er zahlreiche Auftritte im privaten Kreis, aber auch öffentlich im Gewandhaus. Schon bis dahin hatte Reinecke viel komponiert, aber nach dem großen Lob, das er für sein in Leipzig am 9. November 1947 uraufgeführtes Konzertstück für Klavier und Orchester op. 33 bekam, intensivierte er seine Kompositionstätigkeit, allerdings ohne durchschlagenden finanziellen Erfolg. So entschloß er sich Ende des Sommers 1849, in das wirtschaftlich und musikalisch aufstrebende Bremen zu gehen. Dort fand die Erstaufführung der ersten Fassung der A-Dur-Sinfonie statt, zudem erteilte er Klavierunterricht. Der Bremen-Aufenthalt wurde 1851 unterbrochen durch einen von Franz Liszt, den Reinecke zuvor in Weimar persönlich getroffen hatte, initiierten Aufenthalt in Paris. Reinecke lernte Hector Berlioz kennen, wichtiger für seine berufliche Zukunft aber war sein Zusammentreffen mit Ferdinand Hiller, den er schon aus Leipzig kannte, denn der bot ihm mit einer Dozentenstelle an der Rheinischen Musikschule Köln die schon länger ersehnte feste Anstellung an.
Ende 1851 übersiedelte Reinecke nach Köln, die regelmäßigen Einkünfte ermöglichten ihm endlich die Heirat mit der schon länger verehrten Betty Hansen, die erste von drei Ehen Reineckes, aus denen insgesamt neun Kinder hervorgingen. Betty Hansen starb bereits 1859, kurz bevor Reinecke nach Zwischenstationen als städtischer Musikdirektor in Barmen und Breslau zum Leiter des Gewandhauorchesters ernannt wurde, eine Stellung, die er im Herbst 1860 als Nachfolger von Julius Rietz antrat und für 35 Jahre erfolgreich ausfüllte. Trotz der enormen Belastung allein aus dieser Tätigkeit übernahm Reinecke im selben Jahr die Professur für Komposition und Klavier am Leipziger Konservatorium, blieb aber durchweg auch in den Jahren der Gewandhaus-Leitung als Solist, Musikschriftsteller und nicht zuletzt als Komponist aktiv. Ab 1895, dem Jahr seiner Ablösung durch Arthur Nikisch, unterrichtete er sieben Jahre weiter am Konservatorium (neben vielen anderen gehörten Grieg, Bruch, Janacek, Stanford und Albeniz zu seinen Schülern), fand aber zugleich mehr Zeit, seine kompositorische Tätigkeit zu intensivieren und darüber hinaus wieder verstärkt als Solist und Begleiter in Erscheinung zu treten, so mit fast achtzig Jahren, als er 1904 bei der Uraufführung seines Klaviertrios op. 264 den Pianopart übernahm. Carl Reinecke starb am 10. März 1910 in Leipzig, sein Grab befindet auf dem Leipziger Südfriedhof.
ORCHESTER
Carl Reinecke ließ sich Zeit mit der Komposition von Orchesterwerken, die er im übrigen sehr häufig auch für Klavier einrichtete, begann dann aber mit Ouvertüren, zunächst 1854/5 die
Ouvertüre zu Calderons ´Dame Kobold` op. 51
Fünf Jahre später folgte die
Ouvertüre zu ´Aladdin` op 70
Die bis heute wohl bekannteste Geschichte aus ´Tausend und einer Nacht`, die Reinecke in charakteristischen Bildern aufscheinen lässt: die Person Aladdin in der Eröffnung, den feindlichen Zauberer mag man im folgenden heftigen Unisono erkennen und die Sultanstochter in der Eleganz von Flöte und Klarinette. In dem Sonatensatz schildert die Durchführung Aladdins Lampenabenteuer und der Schluß gibt den glücklichen Ausgang der Geschichte wieder.
Sinfonie Nr. 1 A-Dur op. 79
Der Komposition dieser Sinfonie gingen zwei Versuche voraus, einer in Kopenhagen (1847/8) vollendet, der verloren ging, aus dem aber das Scherzo in die A-Dur-Sinfonie einging und ein weiterer, von Reinecke vernichteter Versuch aus der Kölner Zeit, dessen Hauptgedanken im Klavierquintett op. 83 Verwendung fanden. Eine erste Version der A-Dur-Sinfonie wurde 1858 am 2. Dezember vom Leipziger Gewandhausorchester unter Julius Rietz uraufgeführt. Fünf Jahre später überarbeitete Reinecke das Werk, gestaltete die beiden inneren Sätze neu und fügte den äußeren Sätzen Einleitungen hinzu. Die Premiere dieser Fassung fand am 22. Oktober 1863 statt, wieder mit dem Gewandhausorchester und dem Komponisten am Pult. Das Werk wurde freundlich, aber nicht begeistert aufgenommen, bis heute wird die hörbare Nähe zu Mendelssohn und Schumann mit leisen kritischen Untertönen angeführt. Der Aufbau ist traditionell, die Ecksätze (Satz 1: Lento – Allegro con brio – Piu animato, Finale: Allegro ma non troppo – Allegro molto quasi presto) stehen in der Sonatenform, deren langsame Einleitungen vorsichtige Andeutungen der folgenden Hauptthemen enthalten (überraschend im ersten Satz allerdings, dass das zweite Thema nicht in der Dominante, sondern im parallelen cis-moll beginnt, das ´richtige` E-Dur erscheint erst bei der dritten Wiederholung), der Andante bezeichnete zweite Satz ist ein von reichlich Chromatik durchzogenes Stück, dabei idyllisch-melancholische, eine Stimmung, die sich im Trio des Scherzos wiederfindet (Molto vivace – Trio un po piu lento), während das Scherzo lebhaft und verspielt klingt. Es endet mit einer kurzen Klarinetten-Kadenz von sechs Takten, die sich am Beginn des Finales in einer kurzen langsamen Einleitung spiegelt, in deren beiden ersten Takte wiederum die Soloklarinette erklingt, ehe zwei quirlige, leider wenig eindringliche Themen übernehmen, die vielfach abgewandelt in eine schwungvolle Coda münden. Wiegandt hat das Erlebnis der Sinfonie wie folgt zusammengefasst: ´.. ihr bürgerlicher, idyllischer Ton macht sie zu einem leicht-faßlichen und lichten symphonischen Stück, welches auch heute noch eine Bereicherung des Repertoires darzustellen vermöchte.` (S. 104)
Triumphmarsch op. 110
Auch Reinecke beteiligte sich an den mit reichlich Blech ausgestatteten Jubel-Kompositionen aus Anlass des preussisch-deutschen Sieges im Krieg mit Frankreich 1870/1 mit diesem dem Kronprinzen Albert von Sachsen gewidmeten vier Minuten Stück.
Sinfonie Nr. 2 in c-Moll op. 134
In einem Vorwort zu diesem 1875 geschriebenen und uraufgeführten Werks führt Reinecke an, die Sinfonie sei vom Trauerspiel ´Hakon Jarl` des dänischen Dichters Adam Oehlenschläger angeregt, sagt aber zugleich, es handele sich nicht um Programmmusik trotz der handschriftlich vermerkten Satzüberschriften: 1. Hakon Jarl 2. Thora 3. In Odins Hain 4. Olufs Sieg. Und in der Tat ist die Sinfonie in allen vier Sätzen durchweg klassisch strukturiert. Der erste Satz (Allegro) bewegt sich exakt in Sonatensatz-Form: einzige Überraschung: er beginnt mit einer langsamen Einleitung, in der ein Paukenmotiv erscheint, das zum Ende der Exposition und zu Beginn der Reprise wiederholt wird. Mit dem sanft fließenden Seitenthema und den eingebetteten Hornsoli gelingt Reinecke allerdings ein bemerkenswerter melodischer Höhepunkt. Satz 2 (Andante) wird von der Oboe eingeleitet, Violinen und Flöten kommen hinzu und singen eine bewegt-klagende Melodie, die mehrfach gesteigert schließlich zu ihrer ursprünglichen Form zurückfindet. Es folgt ein beschwingtes Intermezzo: Allegretto moderato in Form eines Scherzos mit zwei Trios, von denen das zweite mit seiner ausgeprägten Sechszehntelbewegung am Ende des Satzes noch einmal erscheint. Das Finale: Allegro – wie Satz 1 in Sonatenform - beginnt beinahe tastend, aber bald übernimmt ein dynamisches Thema, wirkungsvoll kontrastiert von den zarteren Klängen des Seitenthemas. Am Ende schlägt Reinecke einen Bogen zurück zum ersten Satz der Sinfonie.
Fest-Ouvertüre op. 148
1878 schrieb Reinecke diese Ouvertüre für ´sein` Orchester: die Partitur ist allen damaligen 71 Mitgliedern des Gewandhaus Orchesters gewidmet, sie sind alle namentlich auf der ersten Seite der Partitur aufgeführt. Das als Sonatensatz angelegte Stück klingt fast monothematisch, weil die Themen, die der der ausgedehnten langsamen Einleitung folgen, sehr eng aneinander angelehnt sind, aber Durchführung und Reprise sind dennoch herauszuhören.
Zur Jubelfeier op. 166
1881 zur 100-Jahr-Feier des Beginns der Gewandhaus-Konzerte geschrieben, ist diese Ouvertüre – obwohl formal Sonate – monothematisch angelegt. Das in der Einleitung vorgestellte Thema wird in den verschiedenen Teilen auf unterschiedliche Weise variiert (rhythmisch, durch Verkürzung), was dem Stück eine große strukturelle Geschlossenheit gibt.
Ouvertüre zu Klein`s Trauerspiel ´Zenobia` op. 193
Eine der zahlreichen Programm-Ouvertüren des 19. Jahrhunderts, hier zu dem gleichnamigen Stück von Julius Leopold Klein aus dem Jahr 1871. Neben der Ouvertüre, die auch in der Fassung für zwei Klaviere nach einer langsamen Einleitung mit einem dunkel getönten Fugato die Leidenschaft des Orchester-Originals erkennen lässt, verfasste Reinecke eine Bühnenmusik, die er in Ausschnitten auch als Klavierwerk (op. 194) und für Streichorchester (Zwölf Tonbilder – Zusammenstellung ohne eigenes Opus) veröffentlichte.
Prologus solemnis op. 223
Ein Orchesterwerk aus dem Jahr 1893 aus dem vermeintlichen Anlass der 150-Jahr-Feier der Gewandhaus-Konzerte. Das war allerdings ein Irrtum, denn das Gewandhaus-Orchester entstand erst 1781. Aber .. es gab trotzdem etwas zu feiern: 1893 wurden die Leipziger Abonnementskonzerte 150 Jahre alt. Dazu schrieb Reinecke diese sehr wirkungsvolle Ouvertüre, die auch in der Klavierversion sehr reizvoll gesetzt ist.
Sinfonie Nr. 3 in g-Moll op. 227
Vollendet 1984, uraufgeführt unter der Leitung des Komponisten am 21. Februar 1895 im Gewandhaus wurde die dritte Sinfonie fast so etwas wie ein ´Schwanengesang` des Dirigenten Carl Reinecke, denn nach diesem Konzert sollte er bis zu seiner Ablösung im selben Jahr durch Arthur Nikisch nur noch vier weitere Konzerte leiten. Im Aufbau unterscheidet sich diese Sinfonie nicht wesentlich von op. 134, allerdings beginnt Satz 1 (Allegro) nicht mit einer langsamen Einleitung, sondern führt sofort in den Streichern das die folgende Sonatenform bestimmende energisch-prägnante erste Thema ein, während das Seitenthema in ruhigem Fluss zunächst von der Oboe getragen wird. In der Durchführung, in der ganz allmählich so etwas wie Stillstand einzutreten scheint, arbeitet Reinecke vorwiegend mit kanonischen Wirkungen des dafür prädestinierten Thema 1, die dramatisch gesteigert werden. In Satz 2 (Andante sostenuto) führt die Klarinette das erste eher lyrische Thema ein, ein zweites, später in den Streichern auftretendes Motiv (es könnte durchaus von Brahms sein, der dieses Werk als ´grob und ordinär` bezeichnet hat), ist stärker rhythmisch geprägt. Aus diesen beiden Themen entwickelt sich so etwas wie eine Durchführung, so dass auch dieser Satz einem Sonatensatz ähnelt. Er endet pianissimo mit dem ersten Thema. In Satz 3 (Scherzo: Allegro vivace) folgt Reinecke dem klassischen Schema (rhythmischer Hauptsatz/lyrischer Seitensatz) mit zwei ähnlich strukturierten Trios. Das Finale: Maestoso – Allegro con fuoco steht ebenfalls in Sonatenform und besitzt einen spürbaren Vorwärtsdrang (wenn auch mit mancher Leerstelle), der sich in mehreren Stufen zu einem rasanten Presto steigert und schon im Mittelteil, besonders aber in den bläserdominierten Schlußakkorden nicht nur ´con fuoco`, sondern ´con tutta la forza` gespielt werden soll.
Kindersinfonie op. 239
Von besonderem Reiz in diesem Werk ist der zweite Satz, in dem Reinecke schon fast so etwas wie ein musikalisches Quiz veranstaltet, indem er das Kinderlied ´Brüderlein fein`, Mozarts ´Mailied, ein Thema aus Webers ´Oberon`, das berühmte Menuett-Thema aus Beethovens Septett und noch einmal Weber mit seinem ´Letzten Gedanken` zusammenführt. Einfacher und plastischer lässt Polyphonie sich nicht darstellen. Die drei weiteren ´Sätze` bestehen im Wesentlichen aus Kuckucksrufen, Nachtigall- und weiteren Vogelgesängen. Im Schlußsatz nimmt das ganze noch einmal kindgerecht Fahrt auf.
Serenade für Streicher g-moll op. 242
Die Uraufführung der Serenade, die Reinecke im Frühherbst 1898 fertiggestellt hatte, fand am 10. November desselben Jahres im Gewandhaus unter der Leitung seines Nachfolgers Arthur Nikisch statt. Das sechsteilige Stück wurde von Publikum und Kritik positiv aufgenommen, auch wenn das ´Musikalische Wochenblatt` ´tieferen Gehalt und individuelle Färbung` vermisste. Das Stück besteht aus sechs Teilen: Marsch, Arioso, Scherzo, Kavatine, Fughetta giojosa und Finale. Von besonderem Reiz ist die Kavatine in 5/4 Rhythmus mit einem ausgedehnten Cellosolo, ebenso die folgende Fughetta giojosa mit ihrer eingängigen Melodie und den Klängen einer obligaten Violine. Im Finale nimmt Reinecke die Marsch-Eröffnung und einen Teil der Kavatine wieder auf, nachdem der Satz mit einer russischen Volksmelodie eröffnet wurde.
Zwölf Tonbilder für Streichorchester
Diese zwölf hauptsächlich gefühlsbetonten Miniaturen (Ausnahmen: Nr. 5, Nr. 8, Nr. 10 und Nr. 12) hat Reinecke aus früheren Werken herausgelöst und 1887 in einer Fassung für Streichorchester neu zusammengestellt; im Einzelnen: 1. Trauermusik aus "Zenobia" (op. 194), 2. Pastorale "Ihr Hirten erwacht“ (op. 63 Nr. 9), 3. Märchen-Vorspiel ´Glückskind und Pechvogel` (op. 177), 4. Kämpevise - Altnordisches Lied (op. 173 Nr. 4), 5. Aus ´Tausend und eine Nacht` (op. 154 Nr. 23), 6. Frieden der Nacht (op. 75 Nr. 10), 7. Nordische Romanze (aus op. 47), 8. Friedensmarsch aus ´Zenobia` (op. 194), 9. Weihnachtsabend und 10. Drosselmeyer`s Uhrenlied aus der Musik zu E.T.A. Hoffmanns Märchen "Nussknacker und Mausekönig" (op.46), 11. Menuett (aus op. 47), 12. Ballettmusik aus der Märchen-Oper ´Glückskind und Pechvogel` (op.177).
KONZERTE
Konzertstück B-Dur für Klavier und Orchester, op. 33
Uraufgeführt wurde dieses kurz zuvor vollendete Werk am 9. November 1848 im Leipziger Gewandhaus, ein Werk, das Reinecke später zusammen mit seinen vier Klavierkonzerten zu seinen besten Kompositionen zählte. Zunächst überrascht die durchgehende Klangschönheit der Instrumentation, insbesondere die souveräne Beherrschung des Bläsersatzes. Formal ist das Stück in Konzert-, Sonatenform gebaut, die Durchführung übernimmt der langsame Mittelteil, das anschliessende Rondo mit der Wiederaufnahme des Hauptthemas aus dem ersten Teil stellt formal die Reprise dar. Dabei wahrt Reinecke sehr geschickt die Balance zwischen pianistischer Virtuosität und orchestraler Substanz. Die Grundtonart wird auf der der Carl-Reinecke-Webseite mit g-moll angegeben, korrekt scheint mir jedoch B-Dur, so auch bezeichnet auf den Einspielungen von Andrea Kauten und Sontraud Speidel. Von dem Stück existieren weitere Fassungen, u.a. für Streichquintett und Nonett, die im Oktober 1849 in Bremen aufgeführt wurde.
Klavierkonzert Nr. 1 in fis-Moll, op. 72
Das Konzert entstand 1860 zu Beginn von Reineckes Tätigkeit als Leiter des Gewandhaus Orchesters und wurde am 24. Oktober 1861 in Leipzig uraufgeführt mit dem Komponisten als Solisten. Das fis-moll-Konzert ist – genauso wie die Konzerte 2-4 – an der formalen Anlage der Wiener Klassik orientiert. Die drei Sätze sind bezeichnet mit Allegro, Adagio ma non troppo und Allegro con brio. Satz 1 beginnt mit einem der Tonart entsprechenden eher düsteren Motiv im Orchester, das – durch den Gebrauch langer Notenwerte und Pausen – wie eine kurze langsame Einleitung wirkt, tatsächlich aber bereits die Kernelemente des folgenden ersten Themas enthält. Orchester und Solist stellen das Thema nacheinander vor, dann erklingt – zunächst in den Streichern gefolgt vom Klavier – das attraktive Seitenthema. Es folgt eine ausgedehnte, stark modulierende Durchführung, deren Ende durch eine Fermate eindeutig bestimmt ist. Die Reprise setzt nach Dur gewendet im Klavier ein, dann darf der Solist in einer ausgeschriebenen Kadenz sein Können zeigen. Eine lebendige Coda (Molto piu animato) im 12/8 Takt beschließt den Satz. Der zweite Satz beeindruckt mit einer sehnsuchtsgetränkten Kantilene, aber insbesondere durch seine Instrumentation, die Solovioline und -cello eine herausgehobene Rolle gibt, ein Verfahren, das später von Brahms und Tschaikowsky in ihren jeweiligen zweiten Konzerten aufgegriffen wurde. Der Schlußsatz beginnt mit einem marschartigen Thema, das mit einem lyrischen Thema kontrastiert wird, und sich rondoartig immer wieder meldet bis hinein in eine virtuos brilliante Coda.
Klavierkonzert Nr. 2 e-moll op. 120
1872 geschrieben, erreicht op. 120 insbesondere wegen der weniger griffigen und eingängigen Themen nicht das Niveau des ersten Konzerts, obwohl die Satztechnik und auch die Orchestrierung dem Schwesterwerk ebenbürtig sind. Der erste Satz (Allegro) hat einige Längen, während das folgende Andantino quasi allegretto mit seinem eigenständigen Intermezzo-Charakter zumindest in Teilen melodisch zu überzeugen vermag. Der sich in diesem Satz zwischen Holzbläsern und Klavier entspinnende Dialog taucht im schwungvollen Schlußsatz in verdeckter Form noch einmal auf, ehe eine strahlende Coda den Satz beendet.
Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur op. 144
Das Konzert stammt aus dem Jahr 1877 und galt Reineckes Zeitgenossen laut Klaus Hellwig (Beiheft zu seiner Gesamtaufnahme der vier Konzerte) als das bedeutendste Konzert der Zeit (Brahms` erstes Konzert war zwar 1859 uraufgeführt worden, hatte sich aber noch nicht als Meisterwerk durchgesetzt). Das Klavier eröffnet den ersten Satz (Allegro - Sonatenform) mit einem lyrischen Thema, das vom gesamten Orchester aufgenommen wird und in einer Vielzahl von Variationen diesen Satz zu einer klingenden Einheit formt. In der Durchführung verdichtet sich das Geschehen zeitweise zu fast dramatischen Klängen, ehe die Hörner mit dem Hauptthema die Reprise einleiten, die nach einem markanten Orchesteraufschwung in eine ausgedehnte Kadenz mündet. Die Coda greift die Anfangsstimmung auf, der Satz verklingt leise. Das folgende Largo ist ein hochromantisches Klanggemälde, in dessen Mittelteil Anklänge an Brahms zu hören sind (Engel S. 71). Im Finale (Molto vivace e grazioso) erscheint nach flott-verspieltem Beginn und einem strahlenden Orchester-Tutti bald leicht transformiert das Hauptthema des ersten Satzes und beschliesst schließlich das Konzert in einer sehr ähnlichen Stimmung wie es begann, eine ungewöhnliche, aber überzeugende Lösung.
Klavierkonzert Nr. 4 h-moll op. 254
Entstanden 1901 unterscheidet sich dieses Konzert von den Vorgängern weniger in der grundsätzlichen musikalischen Anlage als vielmehr in seiner eher kammermusikalischen Ausrichtung und seinem konziseren Aufbau (es ist nur gut halb so lang wie Konzert Nr. 3). Insbesondere der mit Allegro bezeichnete erste Satz ist knapp gefasst (Reinecke verzichtet sogar auf eine Kadenz), während der langsame Satz (Adagio ma non troppo) Erinnerungen weckt an die sanfte Kunst eines John Field. Das abschliessende Allegretto beginnt nur kurze Zeit in der Grundtonart, der Rest des Satzes erklingt überwiegend in H-Dur, die fröhliche Stimmung mündet schließlich in einem vom Seitenthema geprägten kraftvollen Schluß.
Flötenkonzert D-Dur op. 283
Dieses bei Flötisten aufgrund des Mangels an großformatigen Kompositionen für Flöte und Orchester verständlicherweise sehr beliebte Werk entstand 1908; es wurde am 15. März 1909 im Leipziger Gewandhaus von seinem Widmungsträger, dem Solo-Flötisten des Gewandhaus-Orchesters Maximilian Schwedler, uraufgeführt, allerdings mit Klavier-, nicht mit Orchesterbegleitung. Das Stück ist dreisätzig: Allegro moderato - Lento e mesto – Finale: Moderato. Der erste Satz beginnt mit kurzen, träumerischen Holzbläser-Klängen, die von der Flöte fortgesponnen werden bis die Klarinetten und Violen das erste Thema vorstellen, das von der Soloflöte aufgegriffen und virtuos abgewandelt wird. Ein kurzer orchestraler Übergang führt ins zweite Thema des Sonatensatzes, das zunächst der Flöte allein vorbehalten bleibt, die naturgemäß auch in der Durchführung die Hauptrolle spielt. Erst in der Reprise kommt noch einmal das ganze Orchester zu Ehren, der Satz endet aber mit zarten Tönen der Flöte. Der zweite Satz ist – von einer kurzen leidenschaftlichen Orchesterpassage abgesehen – eine einzige Wehklage, die in ähnlicher Weise ganz zart verklingt wie der erste Satz. Zuvor allerdings führt die Flöte vor dem Ende eine zweite Idee ein, die sich im heiteren Finale wiederfindet, das mit seinen kontrastierenden Motiven eher rhapsodischen als Rondo-Charakter hat, aber dem Solisten gleichwohl ausreichend Gelegenheit bietet, sein Können unter Beweis zu stellen.
Ballade für Flöte und Orchester D-Dur op. 288
Reineckes letztes numeriertes Opus, vermutlich gleichzeitig mit dem Flötenkonzert entstanden, ein klassisch dreiteilig angelegtes Stück beginnend mit einem leicht melancholisch klingenden Adagio, das von einem verspielten Allegro – übergehend in einen meno mosso Teil – abgelöst wird, ehe, nach einem fast dramatischen Paukenwirbel, das Adagio zurückkehrt. Im nicht extrem virtuos angelegten Stück werfen sich Flöte und Orchester die thematischen Bälle sehr eindrucksvoll und überzeugend zu.
Harfenkonzert e-moll op. 182
Ebenso wie die Flöte gehört auch die Harfe zu den eher vernachlässigten Solo-Konzert-Instrumenten der romantischen Periode, lediglich der heute fast völlig vergessene Harfenvirtuose Elias Parish Alvars hat sich neben zahlreichen Solostücken zur Eigenverwendung sechs Konzerte in die Finger geschrieben, ansonsten aber sind Harfenkonzerte nur vereinzelt in den Werkverzeichnissen zu finden, immerhin sind mit Boieldieu, Lachner (zwei Beiträge) und Saint-Saens einige auch noch bekannte Namen dabei. Reineckes Konzert stammt aus dem Jahr 1884, es ist dreisätzig mit folgenden Satzbezeichnungen: Allegro moderato, Adagio, Finale-Scherzo: Allegro vivace. Satz 1 (Sonatenform) beginnt im Orchester einleitend fast düster, ein punktiertes rhythmisches Motiv erscheint, das sich zum Hauptthema entwickelt und von der Harfe übernommen wird; ein lyrisches Seitenthema, in dem die punktierten Rhythmen aber immer präsent bleiben, hellt die Stimmung kurzfristig auf. Mit diesem Wechselspiel geht es auch in der Durchführung und Reprise weiter, dann aber folgt mit einer sehr ausgedehnten Solo-Kadenz eine Hommage an die Harfe, die im sonstigen Verlauf des Satzes häufig Gefahr läuft, vom Orchester zugedeckt zu werden. Das zauberhafte Adagio führt ein fast hymnisches Thema ein, das ungemein zart von der Harfe – zumeist begleitet von den Streichern – oder auch den Streichern selbst variiert wird. Im Finale, das thematisch an den ersten Satz anknüpft, übernimmt überraschend die Solotrompete als Farbtupfer und Überleiter eine wichtige Rolle. Ansonsten gelingt es Reinecke, dem Soloinstrument trotz seiner beschränkten Expansionskraft breiten Raum zu geben, in dem tänzerische Abschnitte sich beeindruckend abwechseln mit kammermusikalischen Passagen zwischen Harfe und Flöte.
Violinkonzert g-moll op. 141
Das Konzert entstand 1876 und wurde im gleichen Jahr im Dezember von keinem Geringeren als Joseph Joachim im Gewandhaus unter Leitung des Komponisten uraufgeführt. Leider aber übernahm der hochgeschätzte Geiger es nicht in sein Repertoire, sonst wäre es vermutlich auch heute noch – analog Bruchs erstem Konzert in der gleichen Tonart – ein bekanntes, weiterhin im Konzertsaal gespieltes Stück. Der ausgedehnte erste Satz (Allegro moderato) verarbeitet zwei markante Themen – besonders das zweite, sangliche geht ins Ohr - in Sonatenform mündend in einer knalligen Kadenz. Der Höhepunkt des Konzerts findet sich im zweiten Satz (Lento), der von einem ´Ohrwurm`-Motiv bestimmt wird, das Reinecke in stets variierter Instrumentation und angedeuteter Harmonisierung immer wieder erklingen lässt. Dieses Motiv erscheint im stimmungsmäßig an den zweiten Satz angelehnte Rondo des Schlußsatzes (Moderato con grazia) mehrfach wieder, besonders deutlich zum Ende im Rahmen einer kraftvollen, finalen Steigerung, die dem bis dahin etwas blutleeren Satz doch noch ein fast triumphales Ende beschert.
Romanze für Violine und Orchester a-moll op. 155
Ein Werk aus dem Jahr 1879, das in der Anlage einige Ähnlichkeit aufweist mit Bruchs Romanze in der gleichen Tonart. Zwei lyrische Themen, das erste unterlegt mit entfernten Hornrufen, werden in einem übersichtlichen Sonatensatz vorgestellt, leicht moduliert und schliesslich – nach einem belebten kadenzartigen Teil - verklingt das Stück in einem poetischen Morendo.
Cellokonzert d-moll op. 82
1864 vollendete Reinecke sein einziges Konzert für Cello und Orchester, das mit einem Sonatensatz (Allegro moderato) beginnt, eingeleitet von einem nachdenklichen Thema im Soloinstrument, das – vom Orchester aufgenommen - allmählich an Intensität zunimmt, ehe ein ähnlich lyrisches zweites Thema wiederum im Soloinstrument erscheint, das leichte Anklänge an eines der Hauptthemen in Dvoraks Cellokonzert aufweist. In der Durchführung nebst ausgedehnter Kadenz gibt Reinecke dem Solisten alle Möglichkeiten zu technischer und expressiver Brillianz. Ist schon Satz 1 eindeutig an den seelenvollen Klängen des Cellos orientiert, so gilt dies auch und in besonderem Masse für den zweiten Satz (Andante con moto): die ruhige Kantilene durchzieht den kompletten Satz fast wie eine unendliche Melodie ohne stärkere Klangsteigerungen, schließlich verklingt diese Idylle im Pianissimo. Nach einigen fragenden Akkorden setzt das Cello im Finale (Allegro vivace) die Stimmung mit einem flotten Motiv, das den Satz bis in die Schlussakkorde trägt.
KLAVIER
Es dürfte kaum überraschen, dass der zeitlebens auch als Klaviervirtuose hoch geschätzte Carl Reinecke eine erkleckliche Zahl von Original-Kompositionen für Klavier hinterlassen hat, die die gesamte Bandbreite sowohl der zwei- als auch der vierhändigen Literatur für ein oder zwei Klaviere umfassen, nicht zu vergessen die Kadenzen vor allem zu Mozarts Klavierkonzerten und die Umarbeitung diverser eigener Orchesterwerke. Dabei erweist sich Reinecke einerseits als Meister der Variation, beispielsweise in seinem op. 52 (Variationen über ein Thema von J.S. Bach), op. 84 (Händel-Variationen) oder den Studien und Metamorphosen op. 235 a-c (jeweils ein Thema von Haydn, Mozart und Beethoven), die bisher der Aufmerksamkeit der Phonoindustrie entgangen sind. Aber auch Stücke wie die Alten und Neuen Tänze op. 57, die Suite op. 169 und die Sonate für die linke Hand op. 179 haben verdient, aus der Versenkung geholt zu werden. Ein weiterer wichtiger Teil von Reineckes Klavierschaffen ist seine Fähigkeit, ´verständliche` Musik für Kinder und Jugendliche zu verfassen, sowohl in einem pädagogischen Sinn z.B. mit seinen verschiedenen Reihen von Sonatinen (besonders hervorzuheben op. 47 und 98), dem Musikalischen Kindergarten (op. 206) und dem Neuen Notenbuch für kleine Leute (op. 107) als auch durch seine zahlreichen Märchenvertonungen. Leider liegen für die Solo-Klavierkompositionen nur sehr wenige Einspielungen vor, Wesentlich besser ist es um die vierhändigen Werke und zu einem Gutteil die Märchenvertonungen bestellt. Es folgen kurze Anmerkungen zu einem weiteren Teil von Reineckes Klavierwerk einschliesslich mancher Einzelstücke wie, um MGG zu zitieren, ´Etüden, Suiten, Phantasien u. a.`. Die Märchenvertonungen bilden das Ende dieses Abschnitts.
Andante und Variationen für zwei Klaviere op. 6
1844 während des ersten Leipzig-Aufenthalts geschrieben, steht Reinecke mit diesen Variationen deutlich hörbar unter dem Einfluss Schumanns. Ein lyrisches Thema wird im Verlauf des Stücks abwechselnd poetisch und lebhaft gespiegelt, schon in relativ jungen Jahren erweist sich Reinecke als ein Meister der Variation.
Drei kleine Fantasien für Klavier zu vier Händen op. 9
Eines der frühesten, stark Mendelssohn nachempfundenen Klavierwerke Reineckes – 1847 in Kopenhagen veröffentlicht – mit den Bezeichnungen Lento (F-Dur), Andantino serioso (B-Dur) und Allegretto (E-Dur). In den beiden letzten Sätzen ist in Ansätzen schon die Kontrapunktik zu hören, die sich in op. 24 ganz deutlich zeigt.
Ballade Nr. 1 As-Dur op. 20
Ballade Nr. 2 e-moll op. 215
Es überrascht schon, dass vor Sontraud Speidel noch kein Pianist auf die Idee gekommen ist, diese beiden Perlen romantischer Klavierstücke aus den Jahren 1850 und 1892 aus der Versenkung zu holen. Noch überraschender aber, dass in ihrer Nachfolge (die Zusammenstellung erschien Anfang der 90er Jahre) noch kein weiterer Pianist sich dieser beiden Perlen angenommen hat. Unbedingt empfehlenswert, natürlich besonders für Freunde romantischer Klaviermusik!
Variationen über eine Sarabande von J.S. Bach für Klavier zu vier Händen d-moll op. 24
Das Liszt gewidmete Werk entstand 1849. Grundlage ist Bachs Sarabande aus der Französischen Suite BWV 812, die in sieben Variationen und einem virtuosen Finale verarbeitet wird, stilistisch streng und doch mit dem Blick des Romantikers, der aber auch seine Fähigkeiten in Sachen Kontrapunkt mehr als nur durchscheinen lässt. Der kompakte Satz erinnert an manchen Stellen an eine Orgel.
Sonatinen op. 47, op. 98, op. 127, op. 136 und op. 213
Insbesondere in den beiden ersten Folgen geht es weniger um das Erlernen von Spieltechnik, sondern eher um eine Darstellung der wesentlichen Elemente romantischer (Klavier)musik, aufbereitet speziell für junge Menschen, dabei durchweg voller hübscher Melodik, die permanent durch typisch romantische Vortragsbezeichnungen differenziert wird. In dieser Reihe stellt op. 127 (Bezeichnung: mit stillstehender rechter Hand) eher ein Kuriosum dar, während op. 136 als Vorbereitung auf die beiden frühen Folgen dienen soll. Opus 213 hat Reinecke vermutlich bewusst als Sonates miniatures bezeichnet, um der häufig als abwertend empfundenen Bezeichnung ´Sonatine` entgegenzuwirken. Leider existiert nur eine Einspielung der drei Sonatinen op. 47 vom Pianisten Daniel Blumenthal.
Bilder aus dem Süden – Vier Fantasiestücke für Klavier op. 86
Die Sehnsuchtsland Italien und ein bisschen Spanien sind die Objekte dieser vier 1865 komponierten Miniaturen. Es beginnt mit dem poetischen ´Unter (den) Cypressen`, einem komplett in Moll gesetzten Stück, gefolgt vom ´Bolero`, naturgemäss mit eher tänzerischem Charakter. Dann begegnen wir einer ´Gondoliera`, wobei es zu Reineckes Zeiten noch keine weiblichen Gondelführer gab, aber die kompositorische Nähe zu Chopins op. 60 ist auch so unüberhörbar. Den Schluß bildet ein ´Neapolitanischer Mandolinenspieler` mit lustig anmutenden Pizzikato-Klängen im Klavier. Achtung: in der vierhändigen Version – gespielt vom Duo Genova/Dimitrov – werden die Miniaturen in einer anderen Reihenfolge gespielt.
Impromptu über ein Motiv aus Schumanns ´Manfred` A-Dur op. 66
Im Jahr 1859 geschrieben, bearbeitet Reinecke mit der sechsten Nummer der Bühnenmusik zu Byrons Manfred (Du schöner Geist mit deinem Haar aus Licht) ein besonders filigranes, zugleich perlendes Thema, das sehr geschickt verarbeitet ist und – nicht verwunderlich – zu Lebzeiten Reineckes zu seinen beliebtesten Werken zählte.
Variationen über ein Thema von Händel op. 84
Entstanden im Jahr 1864 erzielt Reinecke aus einem nicht unbedingt dankbaren Thema überraschend große Wirkung, insbesondere in der vierten Variation und der spielfreudigen Coda.
La Belle Griseldis – Improvisata für zwei Klaviere F-Dur op. 94
Ähnlich wie in den Sarabande und Gavotte-Variationen spiegelt sich in diesem Werk über ein französisches Volkslied aus dem Jahr 1868 Reineckes Verbundenheit mit Alter Musik, die er sehr ausdrucksvoll in die klanglichen Möglichkeiten der Romantik überführt.
Improvisata über eine Gavotte von Gluck A-Dur op. 125
1873 verfasst, existieren diese Variationen sowohl vierhändig als auch für zwei Klaviere. Die Gavotte hat Gluck zweimal verwendet in seinen Opern ´Iphigenie in Aulis` und ´Paris und Helena`. Das beliebte Thema hat kurz vor Reinecke schon Brahms für Clara Schumann bearbeitet. Reinecke überträgt das verspielte Thema nach seiner Vorstellung und einer kurzen Einleitung mit Hilfe von zehn Variationen die Bandbreite der Romantik bis hinein in ein grandioses Finale durchlaufen.
Suite g-moll op. 169
1882 geschrieben, folgen auf ein Preludio ein hübsches, gehaltvolles Andante, ein Menuett, ein als Canzona tituliertes Stück, ein schwedischer Tanz mit dem irreführenden Namen Polska und schließlich ein Allegro con fuoco Finale, das in der Grundtonart beginnend endlich in hellem G-Dur endet; auch eines der Werke, die grössere Aufmerksamkeit verdient hätten.
Klaviersonate für die linke Hand c-moll op. 179
Eine der besten Kompositionen für die linke Hand allein (Puchelt S. 52), das auch zu Studienzwecken geeignet ist. Es besteht (geschrieben 1884) aus vier Sätzen, von denen der langsame Satz (Variationen über ein ungarisches Volkslied) herausragt. Aber auch in den übrigen Sätzen gelingt Reinecke bei allem formalen Klassizismus ein überzeugendes melodienreiches Stück, in dem er auch mit den für ihn typischen modulatorischen Schattierungen arbeitet.
Variationen über ´Ein feste Burg` op. 191
1886 ursprünglich für Orchester zum Reformationstag des gleichen Jahres geschrieben mündet die letzte Variation in ein direktes Zitat aus Händels ´Messias`. Halleluja!
Sonate für Klavier zu vier Händen F-Dur op. 240a, G-Dur op. 275 Nr. 1 und C-Dur op. 275 Nr. 2
Alle drei Sonaten – eher konzis gebaut und fern von spätromantischen Tönen gehalten – atmen den Geist vergangener Zeiten. Die F-Dur-Sonate entstand Ende der 1890er Jahre: ein eher lyrischer Kopfsatz wird ergänzt von einem späten ´Lied ohne Worte` und einem lebendigen Finale. Die späteren Opus-Zahlen stammen bereits aus dem 20. Jahrhundert (ca. 1905). Die C-Dur-Sonate überrascht formal mit ihrer viersätzigen Anlage. Sie beginnt mit einem lyrischen Kopfsatz, dem ein harmonisch reich abgestuftes Andante folgt. Im dritten Satz wird das erwartbare Menuett um einen zweiten Tanz, eine Pavane, erweitert, während das Finale schon fast polyphonen Charakter besitzt und zu einem brillianten Ende geführt wird. Die G-Dur-Sonate ist wesentlich einfacher gestaltet: einem graziösen Eröffnungssatz folgt ein schlichtes Menuett, das thematisch an den ersten Satz anschließt, während das Finale einem nachdenklichen Beginn einen schwungvoll-spielerischen Tanz folgen lässt.
Vier Stücke für zwei Klaviere op. 241
Die kurzen Stücke (Entstehung: ca. 1898) bestehen aus einer von d-moll nach D-Dur modulierenden Etude, einem Menuett, einem als Kanon gestalteten Scherzo und zum fröhlichen Abschluss einem Allegretto giocoso.
Von der Wiege bis zum Grabe op. 202
Dieser Zyklus aus 16 Klavierminiaturen wurde 1888 publiziert und erfreute sich sehr schnell großer Beliebtheit nicht nur in seiner Originalfassung, sondern auch in diversen Bearbeitungen für unterschiedliche Besetzungen. Die Stücke, die in einfach gesetzten Kompositionen den Lebensweg des Menschen von Geburt und Kindheit über die verschiedenen Stufen des Erwachsenen-Daseins bis hin zum Tod (die letzte Miniatur trägt den Titel ´Ad Astra`) spiegeln sollen, waren geradezu prädestiniert für die bürgerliche Hausmusik des späten 19. Jahrhunderts.
Märchenvertonungen
Reinecke hat im Laufe seiner langen Karriere diverse Märchen vertont. Der Pianist Peter Kreutz, der auf Initiative des Detmolder Professors und Baritons Markus Köhler eine Reihe von Aufnahmen dieses Genres eingespielt hat, spricht bei manchen Werken nicht zu Unrecht von einer kleinen ´Oper für den häuslichen Rahmen` und unterstreicht ´den hohen Stellenwert des gemeinsamen Musizierens im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts`, das im wesentlichen von ´weiblichen Kreisen` ausgeführt wurde. Nur als Ausnahme begegnen wir einem männlichen Protagonisten. Aber der Reihe nach:
Nussknacker und Mäusekönig op. 46
Am Beginn dieser Vertonungen steht eine Ouvertüre für Klavier zu vier Händen zu E.T.A. Hoffmanns Märchen (komponiert 1855). Reinecke ergänzte diesen Prolog aber zehn Jahre später mit sieben weiteren Stücken, die Einzelmomente der Erzählung musikalisch bevorzugt humorvoll (das ablaufende und wieder aufgezogene Uhrwerk bei Pate Drosselmeyer oder der Ländler im Puppenreich) illustrieren. Leider existiert von diesem Stück keine Einspielung, eine empfindliche Lücke in der Reinecke-Diskografie.
Schneewittchen op. 133
1856 schrieb Reinecke zunächst drei Gesänge zu diesem Thema, die er 1874 zu einem neunteiligen Zyklus erweiterte, verbunden durch einen Text, den der Komponist unter dem Pseudonym W. te Grove (abgeleitet aus dem Nachnamen seiner Mutter) selbst schrieb. Dieser Zyklus fand überraschend großen Widerhall insbesondere in den ´bürgerlichen Kreisen`, so dass Reinecke sich relativ zügig an das nächste, zumindest hinsichtlich der Protagonistin sehr ähnliche Märchen wagte.
Dornröschen op. 139
Die auf fünf Solopartien plus Frauenchor erweiterte Komposition entstand 1876 und erfreute sich ebenfalls großer Beliebtheit. Die Wiederentdeckung nebst Aufführung 2011 an der Detmolder Musikhochschule hat meines Wissens noch keine bleibende Wirkung entfaltet trotz der variablen und eingängigen Melodik, die aber auch dramatisch eingefärbte Züge nicht vermissen lässt.
Aschenbrödel op. 150
Eine Märchenvertonung aus dem Jahr 1878 für Klavier, Sopran, Alt, Frauenchor und Erzähler, das in durchweg liedhaft-romantischer Form die bekannte Geschichte erzählt, in der der Frauenchor eine tragende Rolle spielt. Für die Titelfigur gelingt Reinecke an manchen Stellen ein bemerkenswerter Grad der Individualisierung im Ausdruck unterschiedlicher Gefühle, die von großer Freude bis zu tiefer Trauer reichen.
Die wilden Schwäne op. 164
Die Vertonung eines Märchens von Hans Christian Andersen aus dem Jahr 1881, das die Rettung ihrer in Schwäne verwandelten Brüder durch eine junge Dame namens Elfriede behandelt, ist mit einer Dauer von fast einer Stunde die längste Märchenvertonung Reineckes und auch die musikalisch anspruchsvollste. Fünf Solisten, ein Frauenchor und neben dem obligatorischen Klavier in diesem Fall auch ein ad libitum Instrumental-Ensemble bestehend aus Harfe, Cello und zwei Hörnern bilden den Rahmen für 16 Musiknummern, für die die Bezeichnung ´Kleine Oper` nicht verfehlt ist, deren musikalische Wirkung auch heute noch überzeugen kann. So überrascht es nicht, dass am 25. Mai 2024 aus Anlass des 200. Geburtstags Carl Reineckes im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses eine szenische Aufführung mit dem GewandhausKinderchor und Mitgliedern des Gewandhausorchesters stattfindet.
Glückskind und Pechvogel op. 177
1883 folgte diese Vertonung mit Begleitung für zwei Klaviere nach einem Märchen aus Richard Leanders "Träumereien an französischen Kaminen", aus der Reinecke später die Ouvertüre und die Ballettmusik jeweils für Streichorchester setzte und sie in seine 12 Tonbilder für Streichorchester eingliederte. (Werke ohne Opus – veröffentlicht 1887)
Schneeweißchen und Rosenroth op. 208
Mit diesem 1889 geschriebenen Stück für drei Singstimmen (zwei Soprane und Alt), weiblichen Chor und Klavier setzte Reinecke zunächst noch einmal auf die erfolgreiche Besetzung, verfasste aber später eine ad libitum Begleitung für Streichorchester.
Der Schweinehirt op. 286
Eine der letzten Kompositionen Reineckes – das Werk erschien in seinem Todesjahr 1910 - hier griff er noch einmal zurück auf den Erfolg seiner frühen Vertonung von E.T.A. Hoffmanns Kindermärchen vom ´Nussknacker und Mäusekönig` op. 46 und gestaltete wie dort kleine, aber reizvolle Stücke für Klavier zu vier Händen, die zudem nicht sehr schwierig gesetzt sind. Auch ohne Zwischentext kann der Hörer den Titeln der einzelnen Stücke durchaus die vertonten Stationen des Märchens entnehmen, besonders deutlich in den Nummern 4 (Spiel und Tanz) und 7 (Fackeltanz).
KAMMER
Streichquartett Nr. 1 Es-Dur op. 16
Zu Beginn des ersten Aufenthalts in Leipzig im Dezember 1843 geschrieben, stellt Reineckes erstes Streichquartett mehr als nur eine Talentprobe dar. Von den Zeitgenossen jedenfalls wurde er durchweg gelobt, auch Felix Mendelssohn fand lobende Worte, auch wenn er dem jungen Mann als Fazit den Rat gab ´fleißig und strenge, sehr strenge gegen sich selbst` zu sein. Die vier Sätze sind wie folgt bezeichnet: Allegro agitato, Andante, Scherzo: Presto und Finale: Molto vivace. Formal ist das Werk stark an den Vorbildern Haydn, Beethoven und natürlich Mendelssohn orientiert, ein von den zeitgenössischen Kritikern herausgehörten ´nordischen` Unterton, insbesondere im zweiten Satz, wird man heute kaum noch konstatieren können. Im zweiten Satz allerdings findet sich zum ersten Mal bei 11.00 (Aufnahme des Reinhold-Quartetts) der Ansatz einer Melodie aus dem Musical ´My Fair Lady` - Es grünt so grün!
Streichquartett Nr. 2 F-Dur op. 30
1851 in Bremen geschrieben und dort aufgeführt, stehen die vier Sätze dieses Quartetts (Allegro con brio, Andante, Scherzo: Vivace und Finale: Allegro molto vivace) nahe bei Robert Schumann. Der Kopfsatz wird wesentlich von der energischen Eröffnungsfloskel bestimmt, das Andante in seiner melancholischen Grundstimmung beeindruckt mit seiner subtilen Instrumentation. Insgesamt gelingt Reinecke ein klares durchsichtiges Klangbild, in dem alle vier Instrumente zu ihrem Recht kommen, es fehlt allerdings der ´zündende melodische Gedanke`.
Streichquartett Nr. 3 C-Dur op. 132
Obwohl bereits 1874 vollendet, wurde dieses Quartett erst am 24. Februar 1877 im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt. Auch wenn Reinecke in diesem Werk ´kaum der Autor zündender Einfälle` ist (Krummacher S. 59), überrascht der Autor im Vergleich zu den beiden früheren Stücken mit melodischen, rhythmischen und modulatorischen Wendungen, die Reineckes vermeintliche Stellung als in Konvention und Akademismus gefangenen Epigonen zumindest fragwürdig erscheinen lässt. Schon der erste Satz in Sonatenform (Allegro animato) spielt höchst beeindruckend mit der stetig wechselnden Verknappung, Erweiterung und Sequenzierung des Motivkerns aus der Einleitung über die alle drei Teile der klassischen Sonatenform hinweg bis hin zur Coda, die den Motivkern des Beginns abrundend wiederholt. Der langsame Satz (Lento ma non troppo) ist ähnlich aufgebaut: aus einem einfachen melodischen Kern entwickeln sich ausgedehnte Melodiebögen, die im Mittelteil der dreiteiligen Form zudem modulatorisch und rhythmisch variiert werden. Im dritten Satz ersetzt ein einfaches Motto moderato von eher gedämpftem Charakter das übliche Scherzo, in dessen Mittelteil wiederum ein weiter harmonischer Bogen geschlagen wird. Das Finale: Allegro molto e con brio ist wiederum ein Sonatensatz, durchweg brilliant und voller Energie und ebenfalls mit einem erkennbaren Motivkern ausgestattet, ohne dass die Verarbeitung die Qualität der vorausgegangenen Sätze erreicht.
Streichquartett Nr. 4 D-Dur op. 211
Vollendet 1890 erlebte Reineckes viertes Streichquartett am 23. Januar 1892 seine Uraufführung. Zum ersten Mal stellt der Komponist eine langsame Einleitung an den Beginn des ersten Satzes (Lento – Allegro), aus der das Hauptthema mit seiner komplexen Rhythmik sozusagen herauswächst und sich – ähnlich wie im dritten Quartett – harmonisch äußerst differenziert entwickelt. Gleiches gilt für den melodisch sehr ansprechenden zweiten Satz (Adagio ma non troppo) insbesondere in seinem Mittelteil, während das folgende Scherzo: Vivace ma non troppo, quasi Allegretto mit seinen Pizzicato-Klängen eher traditionell daherkommt, auch wenn die getupften Oktavsprünge durchaus einen eigenen Reiz entwickeln. Sie begegnen uns wieder im Finale: Allegro giocoso kurz vor Ende des Satzes, wenn die bis dahin ausgelassene in eine schattigere Stimmung umzukippen droht, aber schließlich doch, wenn auch mit einer Moll-Wendung, zurückfindet in die bisherige gute Laune. Sehr auffällig ist die konzise Anlage des Werks, in dem es keine Längen, keinen Takt zuviel gibt.
Streichquartett Nr. 5 g-moll op. 287
Reineckes vorletztes veröffentlichtes Opus, es entstand 1909, als die Werke von Ravel und Debussy, Strauss und Reger sowie nicht zuletzt Schönberg vermehrt in den Konzertsälen gespielt wurden, die innerhalb relativ kurzer Zeit die Entwicklung zum Ende der Tonalität einleiteten. Reinecke ist von diesen Neuerungen meilenweit entfernt, er steht auch in seinen letzten Werken fest zu den klassisch-romantischen Traditionen, was er durch die einfachen Satzbezeichnungen (abgesehen vom Finale) deutlich unterstreicht: Allegro, Adagio, Allegretto nennt er die ersten drei Sätze, lediglich der letzte Satz weicht ab: Finale: Molto moderato e maestoso - Allegro con brio, ma un poco maestoso. Die Stimmung dieses Werks ist durchweg sehr durchzogen von Trauer, vielleicht auch Abschied. Dabei lässt Reinecke keinen Zweifel an seiner Treue zu den hergebrachten Formen, zugleich aber gewinnt er ihnen mit seiner motivischen Elastizität neue Aspekte ab. Von Mendelssohn und Schumann finden sich im op. 287 kaum noch Spuren, eher lassen einige Passagen an Brahms denken, allerdings ohne dessen thematische Griffigkeit. Dennoch ist g-moll-Quartett es allemal wert, häufiger im Konzertsaal zu hören zu sein.